Die Erbschaft

Herbert sitzt mit sorgenvollem Gesicht am Esstisch seines kleinen Reihenhauses, die Hände zittern in den weißen Haaren. Eine dunkelblaue Jacke, die nach Mottenkugeln riecht, hängt wie ein abgetragener Kittel an seinem hageren Körper. Er wartet ungeduldig auf seinen Sohn, denn er will sein Vorhaben so schnell wie möglich zu Ende bringen.

Günther eilt aus seinem Schlafzimmer zum Wandspiegel im Flur. Schnell richtet er seine Krawatte und streicht sich noch einmal die Haare glatt. Heute muss er gut aussehen, denn Susanne erwartet ihn. Er kann es kaum erwarten, bei ihr zu sein. Deshalb schlägt er seinem Vater vor, ihn erst einmal ins Altersheim zu bringen und später noch einmal bei ihm vorbeizuschauen. Schweren Herzens willigt Herbert ein, fügt aber mit leiser Stimme hinzu:

„Vergiss es bitte nicht, es ist sehr wichtig, und vergiss die Tasche nicht!“ Günther hört nur kurz zu.

„Ja, ja, Papa“, antwortet er unaufmerksam.

„Ich komme bestimmt, du kennst mich doch. Aber jetzt müssen wir schnell zum Auto.“

Eine leichte Brise weht den Duft von frisch gemähtem Gras durch den Stadtpark. Susanne reagiert mit heftigem Niesen und geröteten Augen. Sie wartet schon seit zehn Minuten auf der Parkbank am Brunnen, wo sie sich treffen wollten.

„Ich merke schon, du bist allergisch gegen mich“, scherzt Günther, als er auf sie zukommt.

„Das glaube ich auch, du Witzbold.“ Susanne muss wieder niesen.

„Lass uns ins Kino gehen“, fragt sie schniefend, „ist doch ganz in der Nähe?“

„Was wird denn gezeigt?“

„Die Burg“, antwortet die Kollegin.

Günther lässt sich kein zweites Mal bitten, obwohl er dem Roman in der Schule nichts abgewinnen konnte. Für Susanne hätte er fast alles getan.

Zu Hause zieht Günther seine schwarzen Lackschuhe aus, schenkt sich ein Glas Scotch ein, setzt sich auf die Liege und tastet nach der Fernbedienung des Fernsehers; er will sich ein wenig entspannen. Da ertönt ein Läuten wie von Big Ben, es ist sein Handy. In diesem Moment fällt ihm ein, dass er gerade am Seniorenheim vorbeifährt.

„Ja, das bin ich“, antwortet Günther dem Anrufer freundlich.

Dann blickt er schreckensbleich mit weit aufgerissenen Augen ins Leere. Er muss heftig schlucken, um den Kloß im Hals hinunterzuschlucken.

„Wie bitte?“, murmelt er mit zitternden Lippen. „Wie … warum tot? Ich …“

Sein schwankender Blick fällt auf die Aktentasche, in der das Testament liegt, auf dem nur noch das Datum und die Unterschrift seines Vaters fehlen.

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