Der Koffer

An den Gepäckbändern der internationalen Flughäfen wiederholt sich regelmäßig das gleiche Szenario. Gespannt wartet man mit anderen Fluggästen auf seinen Koffer, währenddessen rattert und quietscht das sich drehende Band, beladen mit Koffern. Die glücklichen Finder nehmen ihren Koffer lächelnd vom Band, andere stellen ihn wieder drauf. Man freut sich, wenn man den eigenen Koffer sieht, um gleich wieder ein langes Gesicht zu machen, wenn ein Koffer nur so aussieht wie der eigene.

Voller Zuversicht, dass es keine zwei gleich aussehenden Koffer auf demselben Flug und mit derselben Markierung geben kann, hatte ich den Griff meines Koffers mit zwei bunten Kabelbindern verziert. Eine ganze Weile flog ich zwischen den USA und lateinamerikanischen Metropolen hin und her und freute mich jedes Mal, wenn ich meinen Koffer schon von weitem an den Kabelbindern erkannte.

Einmal, auf einem Langstreckenflug von Los Angeles nach Rio de Janeiro, mit Zwischenlandungen in Dallas Fort Worth Airport und Miami International Airport, gab es in Miami eine Panne. Über den Lautsprecher verkündete eine weibliche Stimme, dass sich der Flug AA1280 nach Rio de Janeiro um zwei Stunden verspäte, ein defektes Radargerät im Flugzeug müsse ausgetauscht werden, das Ersatzteil werde gerade per Kurier eingeflogen. Um die Verspätung aber nicht unnötig zu verlängern, werde das Radargerät aus einem Flugzeug des gleichen Typs ausgebaut, das gerade nicht im Einsatz sei.

Sofort zückte ich mein Handy und informierte meinen brasilianischen Geschäftskollegen Joao, der mich vom Flughafen in Rio abholen sollte. Nach etwas mehr als zwei Stunden hob unser Flugzeug endlich ab.

Langstreckenflüge wie dieser haben eine belastende Wirkung auf den Körper. Manche vertreiben sich die Zeit mit Lesen, die Jüngeren schauen sich Videos an, ein paar Passagiere überarbeiten ihre Vortragsfolien, die meisten schlafen einfach. Ich döse vor meinem aufgeklappten Laptop, als mich die Durchsage aufschreckt, dass wir gleich auf dem internationalen Flughafen von Rio landen.

Die Abfertigung am Einreiseschalter verlief reibungslos, bei der Gepäckausgabe das Übliche und auch bei der Gepäckkontrolle gab es keine Probleme. Frohen Mutes stolzierte ich mit meinem Koffer, der mit zwei bunten Kabelbindern versehen war, aus dem Gebäude. Draußen standen viele Menschen hinter der Absperrung. Als ich mich umsah, entdeckte ich den großen Joao, der geduldig auf mich wartete. Wir gingen zum Parkplatz, wo er sein Auto geparkt hatte. Der Stadtverkehr durch Rio hatte sich schon etwas beruhigt. Nach einer dreiviertel Stunde stand ich an der Hotelrezeption und checkte ein.

Joao wartete im Hotelrestaurant auf mich, während ich meinen Koffer aufs Zimmer brachte. Während des Abendessens besprachen wir das Programm meines Besuchs. Es war kurz vor Mitternacht, als wir uns verabschiedeten. Die ganze Zeit über hatte ich versucht, mir den Jetlag nicht anmerken zu lassen. Jetzt freute ich mich darauf, endlich abschalten zu können. Halbverschlafen fummelte ich am Schloss meines Koffers herum, konnte ihn aber nicht öffnen.

Verwundert sah ich genauer hin. Der Koffer sah aus wie meiner, zwei bunte Kabelbinder schlängelten sich um den Griff. Aber auf dem Namensschild stand nicht mein Name. Der Koffer gehörte einem John Smith aus New York. Ich rief Joao an, er holte mich ab und wir fuhren mit dem falschen Koffer zurück zum Flughafen. Erleichtert stellte ich fest, dass John Smith meinen Koffer bereits im Fundbüro abgegeben hatte.

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