Die Fensterscheibe

Punkt 8 Uhr war er im Sekretariat der Hochschule. Am Schalter 6 legte er hoffnungsfroh seine Unterlagen der Sachbearbeiterin vor, samt Auszeichnungen von seiner High School. Sein alleinerziehender Vater wollte eigentlich, dass er ein »anständiges« Handwerk erlernt, doch er hatte es geschafft, sich zu widersetzen. 

Die Bearbeiterin huldigte die Anerkennungen, bemerkte jedoch, dass für die Registrierung reichten die Zeugnisse. Außerdem liege das positive Gutachten eines bekannten Professors über ihn vor.

Sie runzelte die Stirn, während sie seine Papiere überprüfte. »Stimmt was nicht«, fragte er. Man bat ihn, Platz zu nehmen; er werde aufgerufen, wenn es so weit wäre. Ohne Widerspruch begab er sich zu den Sitzbänken, die entlang der Wand aufgestellt waren.

Studienbewerber um Studienbewerber kamen, wurden abgefertigt und verließen die Schalterhalle wieder. 

Einige Angestellte plauderten miteinander, als wären sie auf einem Kaffeekränzchen, während andere sich eifrig durch Aktenstapel wühlten. Er guckte auf die Wanduhr, schon knapp vor 10. Mehrmals stand er auf, näherte sich Schalter 6, doch setzte sich wieder, als ihm ein anderer Bewerber zuvorkam.

Plötzlich erschien im Eingang ein Polizist, der ohne Zögern zu Schalter 6 ging. Die Dame wechselte einige Wörter mit ihm, dann rief sie den Bewerber durch den Lautsprecher auf. Als er seinen Namen hörte, wollte er sein Gesicht verstecken. Doch stattdessen zwang er sich, zu Schalter 6 zu gehen. Sein Puls hämmerte in den Schläfen, als er sich dem Polizisten näherte. Er dachte nach, was er bloß verbrochen haben könnte. Da fiel ihm das Fußballspiel vom Vortag ein. Er hatte mit den Jungs aus seiner Straße gespielt und ein Tor geschossen, wobei der Ball durch die Fensterscheibe einer alten Nachbarin geflogen war. Die Mitspieler waren darauf geflohen; ihm blieb nichts anderes übrig, als auch wegzulaufen. Die verwitwete Nachbarin hat vermutlich eine Anzeige erstattet, dachte er. Hätte er kein Tor gedonnert, wäre er nicht in diesen Schlamassel geraten.

Am Schalter bat ihn der Polizist mit aufs Revier zu kommen. »Die Fensterscheibe kann ich von meinen Ersparnissen bezahlen, kein Problem«, flehte er den Ordnungshüter an. »Kommen Sie erst mal mit zum Revier«, bekam er als Antwort. Auf dem Weg zur Wache wiederholte er mehrmals, dass er für die zerbrochene Fensterscheibe aufkomme, doch der Wachtmeister schwieg. Wenn er dafür zahlen müsste, würde er zwangsläufig weniger Kurse belegen können. Oder dürfte er sich wegen dieses Vorfalls nicht mehr an der Hochschule anmelden?

Vor der Polizeiwache wurde ihm bewusst, dass dies das erste Mal war, dass er in Berührung mit der Polizei kam; er hatte sich nie etwas zu Schulden kommen lassen, aber jetzt war alles im Eimer. Auf der Wache hingen Steckbriefe von Verbrechern an einer Wandtafel. 

Nach einer Weile kam ein Polizist herein. Vor ihm ging widerwillig ein Handwerker in Handschellen. Verblüfft erkannte der junge Mann seinen Vater. Er flehte den Wachtmeister an, ihn nicht in diese Sache hineinzuziehen, und dachte zugleich an die Hiebe, die er bald einstecken würde. 

Plötzlich stürzte eine Dame ins Zimmer. Sie war außer sich, Tränen rollten ihr die Wangen herunter. »Bist du es tatsächlich?«, rief sie. »Ja, du bist es!« Dann umarmte sie ihn und schluchzte mit bebender Stimme: »Mein Baby, mein liebes Kind, nach so langen Jahren sehe ich dich endlich wieder.« Er roch einen zarten Hauch von Lavendel. Dann wand er sich erschrocken aus ihrer Umarmung. »Du armes Kind«, stieß sie hervor. »Du kannst mich ja gar nicht kennen. Ich bin deine Mama!« 

Er trat einen Schritt zurück und stotterte leise: »meine, meine Mutter ist doch tot«. Sie entgegnete: »Nein, nein, mein Kind, ich war nie tot. Ich habe mich von deinem Vater scheiden lassen und daraufhin hat er dich entführt, da warst du noch ein Säugling. Die Polizei hat nach ihm gefahndet, bis endlich deine gefälschte Geburtsurkunde ihn verraten hat.«

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